Kirche im Fluss
«Fluide» Gesellschaft und Kirche im Social-Distancing
Interview mit Jens Stangenberg | Bienenberg Magazin Winter/Frühling 2021
Corona hat das gewohnte Gemeindeleben seit dem Frühjahr vielerorts stark eingeschränkt. Auf einmal sitzen Leute zuhause und machen sich Gedanken: Fehlt mir der Gottesdienst? Brauche ich die Gemeinde und wie stelle ich mir Kirche überhaupt vor? Gemeinden sehen sich dadurch mit Entwicklungen konfrontiert, die sie zuvor eher diffus wahrgenommen haben.
Jens Stangenberg beschäftigt sich schon lange mit gesellschaftlichen Veränderungen und ihren Auswirkungen auf die Kirche. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, welche Entwicklungen und Herausforderungen sich durch Corona für die Kirche ergeben.
JENS, DU HAST DICH MIT DEM PHÄNOMEN EINER «FLUIDEN GESELLSCHAFT» BESCHÄFTIGT. WAS BESCHREIBT DIESER BEGRIFF?
Mit dem Begriff «fluide» verbindet sich der Versuch, Veränderungen in der Gesellschaft nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance zu verstehen. Häufig wird beklagt, dass in den letzten Jahrzehnten eine gewisse Stabilität und Verlässlichkeit verloren gegangen sei. Im Vergleich zu früher werden dann Menschen vorwurfsvoll als «sprunghaft» und «selbstbezogen» bezeichnet.
Ein bisschen nüchterner betrachtet, haben wir es mit einer Verschiebung in den sozialen Interaktionsmustern zu tun. Bereits in den 90er-Jahren sprachen Soziologen von einer «Multioptionsgesellschaft». Das Überangebot von Waren und Möglichkeiten zwingt den Einzelnen, täglich eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen. Aus ersehnter Freiheit wird Überforderung. Hinzu kommt die erhöhte Mobilität und Digitalisierung, wodurch Veränderungsprozesse weiter beschleunigt werden. Letztendlich führt es dazu, dass Lebenskonzepte immer mehr «im Fluss», also «fluide» sind und es schwerer wird, langfristig zu planen und sich festzulegen.
IN WELCHER WEISE WIRKEN SICH DIESE VERÄNDERUNGEN AUF DIE KIRCHE AUS?
Bei aller geistlichen Bedeutung hat «Kirche» auch eine soziale Gestalt. Deswegen ist sie von diesen Entwicklungen genauso betroffen: Die Bindungskraft von religiösen Institutionen nimmt ab. Die Anzahl der Gottesdienstbesucher ist fallend. Das kirchliche Programmangebot konkurriert mit vielen anderen Freizeitaktivitäten. Wenn es schlecht läuft, löst sich die Wir-Gestalt von Kirche immer weiter auf. Übrig bleibt dann ein unstetiges Konsumverhalten, bei dem das «religiöse Subjekt» die jeweilige kirchliche Performance nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung bewertet. Kirche im Sinne eines Programms und als Service-Angebot ist optional geworden. Der Erwartungsdruck steigt. Das zwingt kirchliche Angestellte, immer neue attraktive Events anzubieten und diese medial zu vermarkten. Sollte es nicht gelingen, besteht Gefahr, in eine Frustrations-Spirale hineinzustürzen.
ALS CORONA DIE GEWOHNTEN GOTTESDIENSTE VERHINDERT HAT, HABEN MANCHE DEN ENTSCHLEUNIGTEN SONNTAG GESCHÄTZT UND BLIEBEN AUCH IN DER FOLGE WEG. WIE ORDNEST DU DIESE ENTWICKLUNG EIN?
Mitte März 2020 setzten wir zum ersten Mal unseren Präsenz-Gottesdienst aus. Ich erinnere mich noch gut an die verbreitete Euphorie, von nun an jegliche Art von Sonntagstreffen streamen zu können. Die technischen Möglichkeiten waren spannend und forderten zu einer steilen Lernkurve heraus. Bei all dem hatte ich aber ein sehr mulmiges Gefühl. Meine Befürchtung war, dass sich Corona längerfristig eher als Turbo-Effekt in Richtung eines «konsumorientierten Christseins» herausstellen würde. Gewiss gab es bei Einzelnen berechtigte Gründe, sich zeitbegrenzt vom Gemeindeleben zurückzuziehen. Bei anderen aber hatte ich den Eindruck, Corona war für sie eine willkommene Legitimation, nicht länger dabei sein zu müssen.
Acht Monate später hat sich durchaus eine gewisse Corona-Routine eingestellt. Ich bin aber auch überrascht, wie sehr und in welcher Geschwindigkeit sich die Zusammensetzung unserer Gemeinde verändert hat. Manche, die früher zu den «stabilen Akteuren» gehörten, haben sich völlig zurückgezogen. Andere, die eher am Rande waren, haben sich als sehr verlässlich erwiesen.
All das wirft die Frage auf: Wie nötig ist die Wir-Gestalt des Glaubens und woran zeigt sie sich?
VIELE MENSCHEN WÜNSCHEN SICH GEMEINSCHAFT, OHNE DABEI IHRE INDIVIDUELLE FREIHEIT AUFGEBEN ZU MÜSSEN. WIE LASSEN SICH DIESE BEIDEN BEDÜRFNISSE VERBINDEN?
Ich bin davon überzeugt, dass das Evangelium von Jesus eine Botschaft der Freiheit ist. Falsch verstandene Freiheit führt jedoch zu einem übersteigerten Individualismus. Wenn so ein Negativ-Drall noch zunimmt, wird daraus völlige Selbstbezogenheit und mangelnde Rücksicht. Auf der anderen Seite haben offenbar auch nicht wenige in christlichen Gemeinschaften negative Erfahrungen gemacht. Diese reichen von einem beklemmenden Pflichtgefühl, über religiöse Manipulation bis hin zur Sozial-Kontrolle. All das sind Phänomene einer verklumpten Gemeinschaft und das Zerrbild von Verbindlichkeit.
Interessant ist nun, dass Freiheit ab einem gewissen Grad durchaus als unbefriedigend und belastend empfunden wird. Man möchte zwar wählen können, aber nicht im Überangebot von Möglichkeiten ertrinken.
Daraus entstehen Konzepte einer sogenannten «kuratierten Wahlmöglichkeit»: Menschen vertrauen dabei anderen erfahrenen Personen, die ihnen helfen, eine Fülle von Möglichkeiten auf drei bis fünf zu reduzieren. Aus dieser eingeschränkten Auswahl möchten sie dann frei wählen können. Ein solches Vorgehen lässt sich auf viele Bereiche anwenden, z.B. auf Kleingruppen: Menschen wollen nicht zugeteilt werden, sondern wählen können. Gleichermassen müssen bestehende Kleingruppen entscheiden dürfen, ob eine neue Person stimmig zu ihnen passt. Über allem steht die Überzeugung: Ja, wir wollen gemeinsam Jesus folgen.
Irgendwie ist klar: Wenn sich alle immer nur alles offenhalten, entsteht kein «gemeinsam». Es braucht Leute, die den ersten Schritt machen und damit zu Kristallisationspunkten werden. Werte wie Verlässlichkeit und Verfügbarkeit werden in Zukunft bei aller Offenheit und Freiheit zu Schlüsselkomponenten. Ich nenne es «freiwillige Selbstverpflichtung». Ein solches Verhalten ist für mich Ausdruck eines mündigen Glaubens.
DU HAST DAS PROJEKT «ANKERZELLEN» GESTARTET. WELCHE ÜBERLEGUNGEN STEHEN DAHINTER?
Als es im Frühjahr zum ersten Lockdown kam und die erste Schock-Lähmung vorbei war, entschieden wir uns als Gemeinde, jeden Tag um 18 Uhr ein offenes Online-Treffen anzubieten. Bei diesem Treffen ging es um die aktuelle Befindlichkeit, aber noch viel mehr darum, gemeinsam einen Bibeltext zu lesen und zusammen zu beten. Ganz schlicht. Der Zeitrahmen war zunächst auf ca. 30 Minuten angelegt. Diese 18 Uhr-Zeit erwies sich als ein Ankerpunkt im Tagesverlauf und als eine Energiequelle in turbulenten Zeiten.
Während dieser Zeit kamen alte Fragen neu auf: Was sind elementar wichtige Elemente für ein Leben in der Nachfolge Jesu? Was baut den inneren «Christus in mir» auf? Welche Praxis verleiht neue Energie, um die täglichen Herausforderungen zu meistern? Uns schien, dass dafür drei Praktiken zwingend nötig sind: (1) Kurzer «Check-In» über die momentane Verfassung. Es braucht keine endlos langen Austauschrunden. (2) Lesen und Hören eines biblischen Textes. Ziel ist nicht eine spitzfindige Diskussion, sondern ein «Hören mit dem Herzen». Anschließend teilt jede Person in der Runde mit, wodurch sie berührt wurde. (3) Beten entlang der benannten geistlichen Wahrheiten. Indem laut gebetet wird, baut es auch andere in der Runde mit auf. Abschließend wird ein Segensvers einander zugesprochen. All das passt in 35 Minuten. Erstaunlich. So kann man sich frühmorgens oder zu einer anderen Tageszeit treffen, ohne dass es sich wie ein zusätzlicher Termin anfühlt. Mehr Infos zu diesem Format gibt es auf der Website: www.ankerzellen.de
Jetzt haben wir begonnen, darüber hinaus am Sonntagmorgen ein neues Online-Format auszutesten. Wir nennen es Karawanen-Gottesdienst. Es sind mehrere Ankerzellen zeitlich hintereinander, also gewissermaßen «in Reihe» geschaltet. Zwischen den Gruppen gibt es eine Überschneidungszeit von ca. 10 min. Dort trifft man die Leute zunächst aus der Vorund später aus der Nachgruppe. Auf diese Weise werden sowohl kleine Gruppen für intensive geistliche Zeiten, als auch größere Gruppen für Smalltalk und für ein Zusammengehörigkeitsgefühl ermöglicht. Keine dieser Gruppengrössen sind am Bildschirm so gross, dass sie als «zu viel» empfunden werden.
Dieser Angangsweg ist ein weiteres Beispiel für eine «kuratierte Vorauswahl». Die Rahmenstruktur aus mehreren Zeit-Slots wird vorab festgelegt. Die Zuordnung zu den einzelnen Gruppen kann jeder Teilnehmende nach Bedarf und Lieblingszeit wählen. Ergänzend dazu gibt es eine Anbetungs-Playlist und eine mp3-Predigt mit weiteren Materialien. Es ist ein Modulsystem, um miteinander in Kontakt zu bleiben, inhaltlich zu wachsen und geistlich Energie zu bekommen.
WELCHES SIND NACH DEINER MEINUNG DIE WICHTIGSTEN HERAUSFORDERUNGEN, DENEN SICH DIE KIRCHE NACH CORONA STELLEN MUSS?
Zunächst einmal gilt es, innerhalb von Corona nicht nur «den Betrieb am Laufen zu halten», sondern zu einer konstruktiven Haltung zu finden. Ich bin froh, in einer Welt zu leben, die viele digitale Möglichkeiten eröffnet. Auf diese Weise kann man auch über Entfernungen miteinander in Kontakt bleiben. Auf der anderen Seite darf das Digitale nicht über marode Strukturen und floskelhafte Inhalte hinwegtäuschen. Einerseits macht die Corona-Krise kreativ, andererseits bringt sie viel «kirchlichen Leerlauf» an die Oberfläche.
Die Kunst besteht darin, das elementar Wertvolle zu finden und sich von anderen Dingen zu verabschieden. Darin liegt eine Riesenchance. Damit ist aber auch viel Trauerarbeit verbunden. Wer grössere Gottesdienste mit einem fürsorglichen und auf Nähe bedachten Pastor geschätzt hat, wird einen deutlichen Verlust empfinden. Streaming-Gottesdienste können das nicht ersetzen. Wer allerdings «das Kleine und Persönliche» schätzt, noch dazu ein Mindestmass an Eigeninitiative an den Tag legt, den wird diese «neue Normalität» eher beflügeln.
Letztendlich erzwingt die Corona-Krise eine Zellgruppenstruktur, also miteinander vernetzte Kleingruppen. Digitale Streamingformate erhöhen zwar
die Öffentlichkeitswirkung, bauen aber keine stabile geistliche Wir-Gemeinschaft auf. Statt um das Besondere und Aussergewöhnliche geht es vielmehr um das Kleine und Schlichte - integriert im eigenen Wohn- und Arbeitsumfeld. Ob «Kirche» diesen Schwenk in Richtung «elementar verbindlicher Kleingruppen» hinbekommt, bleibt abzuwarten. Leider ist es so, dass der Zellgemeinde-Ansatz in unserem Kulturkontext bisher eher ins Leere gelaufen ist.
WAS LÄSST SICH AUS DER TÄUFERISCHEN TRADITION FÜR DIE ZUKUNFT DER KIRCHE LERNEN?
Die täuferische Tradition bietet eine Menge Anregungen. Besonders herausstellen möchte ich zwei Dinge:
1. Das unmittelbare Lesen der Bibel in kleinen Gruppen: Es geht nicht in erster Linie um Andachtsbücher oder Predigten. Diese können nur eine Ergänzung zur Schrift sein. Am besten ist es, biblische Texte dem Wortlaut nach gemeinsam zu lesen und mit unterschiedlichen Perspektiven darüber auszutauschen. Gemeinsam hörend die Bibel zu lesen, ist nebenbei bemerkt auch eine gute Vorbeugung
gegen verfestigte fundamentalistische Denkformen.
2. Ein verbindlich integriertes Leben in der Nachfolge Jesu: Täufergemeinschaften haben darauf gedrängt, nicht nur abstrakt zu glauben, sondern zusammen mit anderen sein Leben in der Nachfolge Jesu zu gestalten. Das beinhaltet zum Beispiel, sich inmitten von gesellschaftlichen Polarisierungen friedensethisch zu engagieren. Mir scheint, dass die Zukunft der Kirche entscheidend von einem erkennbar gelebten Glauben des Einzelnen in kleinen verbindlichen Gemeinschaften abhängt.
Vielen Dank für das Gespräch! – LA
MEHR ZUM THEMA:
www.jensstangenberg.de
— JENS STANGENBERG —
ist Pastor, Autor und Podcaster. Er engagiert sich seit über 30 Jahren im Aufbau von Gemeinden und arbeitet seit 2005 in der Zellgemeinde Bremen.
Seit 2017 veröffentlicht er Podcasts zu verschiedenen Themen wie z.B. «Täufertradition» und «Bibelfundamentalismus». (*1965)
Dieser Artikel ist erschienen im Bienenberg Magazin | Winter/Frühjahr 2021: https://de.bienenberg.ch